Commitment fürs Celluloid
Die schwedische Firma Tågab fährt überwiegend Güterzüge quer durchs Land und verdient damit den größten Teil ihres Geldes. Doch sie betreibt auch eine umfangreiche Flotte an historischen schwedischen Reisezugwagen und Lokomotiven, mit denen eine Anzahl von Fernverkehrsstrecken in Schweden nach regelmäßigem Fahrplan bedient wird.
Die Verkehre richten sich dabei jedoch keineswegs an Spinner oder Pufferküsser, sondern an ganz gewöhnliche Reisende, die die Tickets normal über die gängigen Anbieter, wie die Internetseite der Schwedischen Staatsbahn SJ, buchen und inklusive Fahrgastrechten in ihre Reisekette integrieren können. Dies ist im Übrigen ein eklatanter Unterschied zum deutschen System – man stelle sich vor, man könnte bei der DB Tickets für die Konkurrenz von Flixtrain kaufen!?
Mit Rolleiflex und Tågab in die Vergangenheit
Für meinen letzten Ausflug nach Norwegen und Schweden entschied ich mich, ausschließlich die analoge Kamera mitzunehmen. Meine bekannte Rolleiflex SL35, die nach einem Sturz einen Defekt am Sucher erlitten hat, wurde ersetzt durch eine … Rolleiflex SL35! Ich erstand auf Kleinanzeigen eine mit funktionierendem Belichtungsmesser. Und ein Tokina Weitwinkelobjektiv mit Blende 2.8 war auch noch dabei!
Tågab Rc3 beim Halt in Karlstad. Im Hintergrund fällt auf: Der Zug ist gut gebucht.
Die massiven Klapptüren werden mit Muskelkraft geöffnet UND geschlossen.
Im kombinierten 1.Klasse-Bistro-Wagen herrscht gemütliche Stimmung.
Reißt die Fenster auf!
Die historischen Wagen haben keine Klimaanlage. Für ein angenehmes Klima und ein laues Lüftchen im Wagen sorgen öffnungsfähige Fenster. Für mich sind öffnungsfähige Fenster einfach ein Gamechanger: sie wirken im Gegensatz zur Klimaanlage auch bei Totalausfall der Klimaanlage, sie erlauben einem einen ungehinderten Blick nach draußen mit Fahrtwind im Gesicht und im Wind flatternde Vorhänge sind einfach ein Sinnbild für Reisen in Zeiten längst vergangener Tage. Und natürlich kann man so auch viel besser fotografieren!
Im Abteil mit Ohrensesseln und weichen Polstern ist es gemütlich und bequem …
… und die Fenster lassen sich öffnen. Im Wind flatternde Vorhänge – das ist Reisen!
Draußen Schwedenidylle pur.
Seen und Wälder wechseln sich ab.
Und wer dem Kopf aus dem Fenster hält, sieht selbst im fernen Schweden die Zugspitze!
Die Rc3 im schönsten Sommerlicht!
In der zweiten Klasse erstklassig reisen!
Der Komfort und die Behaglichkeit sind aus modernen Zügen vollständig verschwunden. Kalte LED-Beleuchtung, die auch bei finsterster Nacht mit eklatanter Härte in die Augen strahlt (an Ruhen ist nicht zu denken), harte Sitze und – wenn überhaupt vorhanden – Sonnenblenden ohne nennenswerten Verdunklungseffekt.
Hier lässt es sich aushalten, oder?
Im Vergleich mit den heutigen Zügen reist man hier selbst in der zweiten Klasse erstklassig.
Tågab: för goda relationer – für gute Beziehungen
Mit bis zu 160 km/h fliegt die Landschaft am offenen Fenster vorbei …
Da kommt der Gegenzug!
Die Aussicht und die frische Luft sind einfach herrlich!
Halt in Karlstadt, einer 61.000 Einwohner-Stadt. Von hier aus beginnen die meisten Reisezüge Tågab ihren Umlauf.
Kein Piepen, keine Lichtschranke und keine Knöpfen. Und doch keine Toten!?
Wer in den Zug einsteigen möchte, muss die Tür noch von Hand öffnen und hinter sich mit ordentlich Schwung zuziehen. Oder man lässt dies den Zugführer erledigen. Dieser muss nämlich bei jedem Halt den Zug entlangschreiten und sämtliche (noch offenen) Türen von Hand schließen, bevor er den Abfahrauftrag an den Triebfahrzeugführer geben kann.
Die Türen öffnen also nicht automatisch, piepen nicht, haben keine Lichtschranken, müssen händisch geschlossen werden und blockieren erst ab einer Fahrtgeschwindigkeit von 5 km/h. Und trotzdem gibt es keine Toten am laufenden Band! Verrückt eigentlich, wenn man bedenkt, was heutzutage für Maßstäbe an Neufahrzeuge angesetzt werden. Wenn das das EBA wüsste.
Die alten Türen werden vom Zugführer von Hand geschlossen.
Zentrales Schließen ist nicht möglich.
Der Abfahrauftrag kommt mündlich per Funk.
Und beim Anrollen natürlich Bahnsteigbeobachtung. Prüfen, dass keine Tür mehr durch einen Reisenden geöffnet wird!
Müssen es immer 300 km/h sein?
Wenn man mit Tågab unterwegs ist, könnte man sich die Frage stellen, ob es überhaupt immer schneller und schnittiger und vermeintlich moderner werden muss. Züge mit immer ausgefuchsterer Technik, kontaktlosen Wasserhähnen, vor denen man erst einen Tanz aufführen muss, bis sie sich erbarmen, Wasser zu spenden. Mit mehr Displays im Wagen, als der Leitstellendisponent vor sich hat. Und natürlich mit immer größerer Dichte an Wandfensterplätzen.
Oder vielleicht ist es dem gemeinen Fahrgast sogar gar nicht so wichtig, in einem sterilen, weißen, seelenlos-kalten Flugzeug auf Rädern mit 300 km/h durch die Landschaft zu preschen. Vielleicht ist es sogar gar nicht so schlecht, einfach mal ein bisschen Tempo rauszunehmen, dafür pünktlich und zuverlässig anzukommen, zu vertretbaren Preisen. In angenehmen Fahrzeugen das Gefühl zu haben, zu reisen.
Denn eines dürfen wir nicht vergessen: Die Eisenbahn ist die Eisenbahn ist die Eisenbahn. Und die Eisenbahn ist kein Flugzeug und muss das auch nicht sein.
Das historisch anmutende Plakat wirbt für frischen Kaffee an Bord!
Der genießt sich am besten bei frischer Luft.
Endstation!